Kulturelles
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Kulturell interessiert?

Dann gibt es in Darmstadt und Umgebung ein breites Angebot von Architektur über Kino und Literatur bis Zoo.

Für Kolleg*innen gelesen

Geschichten und Bücher, die für Sie vielleicht ebenso spannend und interessant sind. Haben Sie auch etwas Interessantes gelesen oder gesehen?

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Molly und Ralph sind die eng verbundenen jüngsten Geschwister und verschworen gegen ihre überängstliche Mutter und ihre älteren Schwestern. Gemeinsam stellen sie sich mit Phantasie und Sturheit den Tücken eines für sie zu engen Familienlebens in einem wohlhabenden Vorort von Los Angeles Anfang des 20. Jahrhunderts. Die große Bildungsweltreise ihrer Mutter mit den älteren Schwestern ändert ihr Leben komplett. Sie ziehen auf die Farm eines Onkels und finden sich zwischen Rinderzucht und Farmalltag in einer atemberaubenden Natur und Wildnis wieder. Erste Risse zeigen sich zwischen ihnen als Molly sich Büchern und dem Schreiben hinwendet und Ralph dem Jagen und dem ersten Verlangen. Wilde Natur und der Übergang vom Kind zum Jugendlichen bilden einen kontrastreichen Spannungsbogen, der mit feinem Humor durchzogen wird.

Jean Stafford wurde für ihr Werk 1970 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Ihre neu übersetzten Werke sind eine Lesereise wert.

Jean Stafford war weiterhin bekannt für ihre über Ehe und ihr Schriftstellerinnenleben: „Eine kleine Stille kam zwischen uns, so präzise wie ein an der Wand hängendes Bild.“

Jean Stafford: Die Berglöwin, Dörlemann, 978-3-03820-072-7, 2020, ca. 25,- €.

Mancher von uns wäre es recht, wenn sie in diesen turbulenten Zeiten sich zurück ziehen könnte an einen Ort, der so bleibt, wie er gerade ist, oder?

Nun es gibt eine Lösung, so man sie findet. Nincshof, liegt oder lag an der Grenze von Österreich zu Ungarn. Ein kleines Dorf mit allem, was man zum Leben zu benötigt wie einem Bäcker und einer Kneipe, einem Bürgermeister und einer Bibliothek. Allerdings ticken hier manche Uhren anders und es gibt eine Gruppe älterer Ortsbewohner*innen, die alles dafür tun ihr Nincsdorf in Vergessenheit geraten zu lassen. Ortsschilder verschwinden, Radwege werden mit Gülle unattraktiv gemacht, Artikel aus Geschichtsbüchern raus getrennt, das Internet bereinigt…

Ein beinah perfekter Plan bis einige Zugezogene eher auf mehr Öffentlichkeit setzen, um mehr Touristen in den Ort zu locken. Ein spannender Wettlauf entsteht. Für das Ende hilft es nur dieses wunderbar schrullige Buch zu lesen.

Johanna Sebauer: Nincshof, Dumont, 978-3-8321-6820-9 , 2023, ca. 23,- €.

auch als Hörbuch erhältlich

Am Ende steht ein großes, lange herbei gesehntes Fest für die drei hageren Schwestern. Am Anfang steht das Gespräch zweier Pfarrer über einen Erdrutsch, der alle Anwesenden des etwas in die Jahre gekommenen Strandhotels Pendizack Manor des Lebens beraubt hat. Einer von ihnen steht vor der schwierigen Aufgabe die Begräbnisrede ohne zu Bestattende zu halten.

Dazwischen liegen ankommende und abreisende Gäste, mürrisches und fleißiges Hotelpersonal, die täglichen Höhepunkte einer Badesaison am Meer. Der Schein trügt fast immer und die Handlung entlarvt manchen Charakter und zeigt seine wahren Beweggründe. Herkunft und Geld sind für manche ebenso bedeutsam wie für andere Liebeleien und waghalsige Mutproben. Es wird nicht langweilig und die Irrungen und Wirrungen sind höchst unterhaltsam.

Nach mehr als 70 Jahren ist die Neuauflage des Buches von Margaret Kennedy eine lohnende Wiederentdeckung, die in die Untiefen der menschlichen Fehler, Eitelkeiten, Schwächen und Sehnsüchte führt. Wunderbar vergnüglich und zeitlos.

Margaret Kennedy: Das Fest, Schöffling, 978-3-89561-079-0 , 2023, ca. 24,- €.

Wer bei 22 Bahnen an ein sportliches Leben denkt, liegt einerseits vollkommen richtig aber andererseits auch gar nicht. Tilda ist Mathematikstudentin in einer Kleinstadt und muss ihr Leben einer strengen Disziplin und Ordnung unterwerfen, um alles regeln zu können, wofür sie sich verantwortlich fühlt. Während sie ihr Studium nebenbei auf den Wegstrecken zur Arbeit an einer Supermarktkasse bewältigt, ist ihre wichtigste Aufgabe, das Wohlergehen ihrer kleinen Schwester Ida. Ihre beiden Väter gibt es nicht mehr und die Mutter ist alkoholkrank. Ihre Krankheit macht sie zu einem unberechenbaren Menschen, deren Verzweiflungstage und Wiedergutmachungstage für die Schwestern eine große Herausforderung sind. Das Geldverdienen, der Haushalt, die Bedürfnisse von Ida alles Dinge, für die Tilda sich verantwortlich fühlt. Einzig das Schwimmbad bietet ihr eigenen Raum. 22 Bahnen sind die Strecke, die sie abtaucht im Schwimmbad, die sie ihrem Alltag davon schwimmt, die ihr die Verbindung zum Fluss des Lebens wieder ermöglichen. Dort trifft sie Victor, der ebenfalls 22 Bahnen schwimmt. Beide in ihren eigenen Dramen gefangen, bietet sich dort die Chance etwas Neues zu wagen. Das Angebot einer Doktorandinnenstelle in der Hauptstadt wird zu einer schwierigen Prüfung und Entscheidung für Tilda.

Bewegend und geradlinig nimmt das Buch die Leserin schnell mit auf eine Fahrt einen reißenden Fluss entlang.

Caroline Wahl: 22 Bahnen, Dumont, 978-3-8321-6803-2, 2023, ca. 22,- €.

Schneller Wandel

Susanna zeigt früh eigensinnige Züge, schon im Umfeld ihrer gut situierten Schweizer Familie. Basel mit seinen klaren Ritualen im Jahreslauf und den vorbestimmten Wegen für Abkömmlinge der bürgerlichen Familien wird ihrer Mutter irgendwann zu eng. Sie folgt ihrem Herzen und wandert mit ihrer kleinen Tochter aus nach New York. Sie ziehen in eine quirlige Metropole in einer Zeit bahnbrechender Veränderungen ausgelöst durch die Entwicklung von Elektrizität und Fotografie, dem Bau der Brooklyn Bridge, veränderte Arbeitswelten. Susanne beginnt zu malen und ist so erfolgreich, dass sie Geld mit ihren Porträts verdient. Als Vorlagen nutzt sie Fotografien und koloriert und verändert die Porträtierte so, wie sie sie sich vorstellt. Der Erfolg gibt ihrer Malweise Recht. Sie ist lebt ungebunden mit ihrer Mutter als ihr Sohn – gegen ihren Willen – die Aufführung einer Wild West Show mit seiner Großmutter besucht und von da an für die Welt der Indianer und ihre schwierige Lage brennt. Die Reise von Susanna und ihrem Sohn in den Westen zum Dakota-Territorium, wo sie Sitting Bull treffen ist voller Überraschungen. An ihrem Ende steht ein Porträt, das Susanna von Sitting Bull malt, das heute im State Museum North Dakota zu sehen ist.

Eine packende Reise durch die sich schnell wandelnde Welt der Industrialisierung und ein wunderbares Porträt einer jungen Schweizerin, die von der ‚alten‘ in die ‚neue‘ Welt eintaucht.

Alex Capus: Susanne, Hanser Verlag, 978-3-446-27396-2, 2022, ca. 25,- €

Macht des Vergessens

England im 5. oder 6. Jahrhundert. Gezeichnet von den Kriegen zwischen Britanniern und Sachsen ist das Land in weiten Teilen zerstört, die Menschen leben einfach. Das Paar Axl und Betarice lebt in einer Dorfgemeinschaft in einer Erdhöhlensiedlung. Allerdings genießen die beiden Alten keinen Respekt in ihrer Gemeinschaft da man ihnen sogar eine Kerze versagt – die einzige Lichtquelle in den Erdhöhlen. Ihnen geht auf, dass sie sich an Ereignisse erinnern, die kürzlich vorfielen und nun von niemandem mehr erinnert werden. Sie beginnen über ihre eigenes Leben nachzudenken und merken, dass ein Nebel über ihren Erinnerungen zu liegen scheint. Das gibt den Anstoß, das Dorf zu verlassen, um ihren Sohn, den sie lange nicht gesehen haben, in seinem Dorf aufzusuchen. Nun beginnt eine abenteuerliche Reise durch gebrochene Versprechen in Kriegszeiten unter König Artus, zu abergläubischen Siedlern, Einzelgängerinnen, intriganten Mönchen, Drachen und anderen Fabelwesen. Was wird passieren, wenn sich der Nebel der Erinnerung lichtet? Wird das Paar sich weiter lieben wenn alte Fehler wieder erinnert werden können? Werden Sachsen und Britannier, die nebeneinander existieren, noch so weiterleben, wenn sie sich wieder an die Gräuel des Krieges erinnern können? Eine spannende Geschichte, die im Kern der Frage nachgeht, wann es besser ist zu vergessen und wann sich zu erinnern.

Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese, Blessing Verlag, 2021, ca 14,- €

Getrieben vom Humor

Zugegeben, Humor ist eine heikle Sache. Worüber eine lacht, das findet die nächste fad oder gar ärgerlich. Dennoch ist diese Sammlung an komischen Texten und Cartoons von Frauen so bunt gemischt, dass sicher alle mal auf ihre Kosten kommen. Sei es der Gutschein für einen Alpaka-Spaziergang, das Ebay-Jäckchen oder ‚Gute Unterhosen‘, irgendwann muss man einfach schmunzeln oder lachen. Falls Sie also immer mal eine kleine Pause ‚zwischen den Jahren‘ planen, wäre dieses Buch vielleicht eine gute Pausenfüllung anstelle eines Weihnachtskekses oder dem letzten Rest veganer Gans.

Ella Carina Werner und Katika Buddenkotte (Hgin): Niemand hat die Absicht ein Matriarchat zu errichten, Satyr Verlag, 2022, ca 22,- €

Das gemütliche innere Bild von grünen englischen Hügeln, Pubs mit Wohnzimmerstimmung und einem demokratisch geordneten Alltagsleben wird der Leserin in diesem Buch nicht begegnen. Die politische Ära von David Cameron bis Boris Johnson verbunden mit gesellschaftlichen Diskussionen von politischer Korrektheit und über die Frage der Befürwortung oder Ablehnung eines Brexit bilden den treibenden Hintergrund der Geschichte. Akteure und Akteurinnen sind Männer und Frauen aller Altersgruppen, unterschiedlicher Herkunft und sexueller Orientierung mit politischen Standpunkten aus dem gesamten Spektrum. Es entsteht ein Narrativ zu den Umwälzungen, die England – und nicht nur England sondern in vielen Aspekten auch Europa – in den Jahren seit 2000 durchlaufen und erlebt hat. Die Verbindung mit individuellen Lebenswegen schafft Bindungen für die Leser*innen, die die Haltung und Handlungen der Charaktere näherbringen und beleuchtet gesellschaftliche Konfliktzonen von politischem Widerstand über Armut und Medienmacht. Die Charaktere sind alle Mittelengländer*innen und kommen aus dem Herzen dessen, was ‚Old England‘ ausmachte. Es ist eine spannende und erhellende Lektüre ihrem Weg zu folgen und Parallelen zu eigenen Erfahrungen der letzten 20 Jahre zu ziehen.

Jonathan Coe: Middle England, Folio Verlag Wien 2020; ca. 25,- €

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Olympia ist vorbei und China ist aus unserer Perspektive sehr weit weg und mal ganz ehrlich, es trifft auch eher auf eine ablehnende Haltung in uns. Zu viele gläserne Chinesen und Chinesinnen, die von ihrem Staat gelenkt werden und andere Bilder schweben uns vor. Aber China hat – wie alle Länder dieser Erde – mehr als eine Facette, z.B. Shenzhen. Shenwas? Shenzhen ist eine 20 Millionenstadt direkt neben Hongkong, die als Modellregion von der chinesischen Regierung gesetzt wurde.

1950 war es noch ein Fischerdorf mit 3000 Bewohner*innen. Innovative Trends kommen in Serie von dort, es ist die Heimat von Techies, Drohnen, autonomen Fahrzeugen, von fleischfreien traditionellen Lebensmitteln, der Mobilfunkhersteller Huawei ist dort ebenso ansässig wie renommierte Biotechnologielabore und Tencent. Frank Sieren lebt seit 1994 in China und hat von dort für unterschiedliche Zeitungen geschrieben, sodass er sowohl den Verlauf als auch eine Perspektive auf die aktuellen Entwicklungen gut darstellen kann. Die Wechselwirkung von Wachstum und Kreativität sowie Kontrolle und ihre Grenzen sind ebenso Teil seiner lebendigen Porträts wie die Entwicklung von technischen Neuerungen und ihren Widerständen, die sie in Europa und den USA auslösen. Es entfaltet sich ein lebendiges und dynamisches Bild der jungen Megacity Shenzhen und ihren Impulsen, die in die Welt hinauswirken. Es geht ebenso um Wohnen und Bewegen wie um Überwachen, Chillen, Vernetzen und Heilen in diesem Buch, das den eigenen Perspektivwechsel fördert – eine lohnende und gut lesbare Lektüre.

Frank Sieren: Shenzen, Penguin Verlag, 2021, ca 22,- €

Die Weite finden

Der zweite Weltkrieg ist vorbei und Robert hat seinen Schulabschluss in der Tasche. Bevor er jedoch der Tradition seiner Familie folgt und beginnt im Kohlebergbau zu arbeiten, muss er noch einmal das enge soziale Netz seiner Familie und Heimatstadt verlassen. Nicht nur ist ihm die Enge des Bergbaus ein Gräuel, er liebt im Gegenteil die offene Weite der Natur und verspricht sich noch mehr Weite vom Meer. Er wandert nur mit leichtem Gepäck, schläft unter offene Himmel und verdient sich sein Essen im Tagelohn. Auf seiner letzten Rast vor dem Abstieg zur Küste hält er noch ein Nickerchen, aus dem er von der Besitzerin des Grundstücks, Dulcie, aufgeweckt wird. Er wird eingesogen in eine neue Welt der Fragen und Gedanken, des Lebens in und mit der Natur, des Genusses und der Gefühle.

Nicht nur mäht und pflegt er Wiesen und Hecken von Dulcies Anwesen, um seinen Aufenthalt bei ihr und ihre gute Versorgung in den eigenen Augen zu rechtfertigen, er repariert auch den alten Schuppen, in dem er sein Quartier aufschlägt. Der Schuppen birgt zwei Geheimnisse, von denen eines sich einfach preisgibt: Gedichte einer jungen Frau, die ihn fesseln. Es entfaltet sich eine bewegende Geschichte, die in einen Bann aus landschaftlicher Weite, Verlorenem und dem Finden des Selbsts zieht. Dulcie öffnet dabei manche Türe, nicht nur die zu ihrer Speisekammer. Diese birgt nicht nur Brennesseltee und Zitronen, sondern auch Brathähnchen und allerlei Weinflaschen, alles kulinarische Köstlichkeiten in der Nachkriegszeit in England.

Bewegend und berührend sind die Weite und Vielfalt der Natur, die schnörkellose Geradlinigkeit von Dulcie und das suchende Stöbern von Robert nach seinen Zielen, seinem Sinn.

Benjamin Myers: Offene See, Dumont, 2021, ca 12,- €

Lyme Regis vor 200 Jahren

Der Boden, den wir täglich betreten, gibt auch heute immer mal wieder historische Geheimnisse preis. Zuletzt wurden in England Ichtyosaurier mit einer Körperlänge zwischen 10 und 20 Metern in der Nähe eines Sees gefunden. Passend dazu hatte ich gerade das Buch zu Mary Anning und Elizabeth Philpot beendet, das Anfang 1800 an der englischen Küste in dem Ort Lyme spielte.

Elizabeth Philpot ist eine von drei Schwestern, die weder einen Heiratskandidaten gefunden haben noch über ausreichend Einkommen verfügen, um nach der Heirat ihres Bruders weiter in London leben zu können. Ihr Bruder kauft ihnen ein Häuschen in Lyme. Doch was sollen sie dort tun, abseits von den vertrauten gesellschaftlichen Aktivitäten.

Eine Schwester wendet sich dem Garten und der Herstellung von Heilsalben zu, eine sucht nach einem Ehemann und die dritte entdeckt die Welt der Fossilien. Dabei lernt sie Mary Anning kennen, die durch Fossilienfunde den Lebensunterhalt ihrer armen Familie mit bestreitet. Sie ist kaum gebildet, verfügt aber über detailreiches Wissen zu den Fossilien, die sie findet. Eines Tages entdeckt sie ein großes Skelett, dass sie mit Hilfe von Bergbauarbeitern aus dem Fels löst und zu Hause reinigt und präpariert. Was sie zunächst als ‚Krok‘ wegen seiner Ähnlichkeit zu Krokodilen bezeichnet, obwohl sie auch klar alle Unterschiede erkennt, löst eine Diskussion in Fachkreisen aus. Aus kirchlicher Sicht konnte es keine Tiere geben, die nicht mehr existieren da dies dem Schöpfungsgedanken von Gott widersprach. Paläontologisch wird das Skelett letztlich von der bis dahin ausschließlich männlichen Geologenwelt als Ichtyosaurier klassifiziert. Doch wie kann es sein, dass die ungebildete Mary Anning, unterstützt von der unverheirateten Dame der Gesellschaft, Elizabeth Philpot, eine nennenswerte wissenschaftliche Entdeckung gemacht hat? Der Weg vom Fund bis zur Anerkennung der Leistung der beiden Frauen ist steinig und spannend.

Heute gibt es einen nach Mary Anning benannten Ichthyosaurus anningae. In Lyme Regis kann man auf ihren Spuren laufen, im örtlichen Museum ist eine Abteilung ihrem Leben und Werk gewidmet. Der Film ‚Ammonite‘ kam 2021 ins Kino mit Kate Winslet und Saoirse Ronan.

Tracy Chevalier: Zwei bemerkenswerte Frauen, Atlantik, 2021, ca 12,90 €

Wer ist hier schadhaft?

Mutter ist zu dick und wird auch immer nur dicker, sagt der Vater und beherrscht damit das Familienleben. Er möchte mit so einer dicken Frau nicht im Dorf gesehen werden, denn was würden ‚die Leute‘ dann denken. (Die Leserin erfährt allerdings nie, ob die Mutter dick ist oder der Vater sie nur als dick wahrnimmt.) Also unternimmt sie immer mal den Versuch Gewicht zu verlieren, entfernt aus ihren Kleidungsstücken die Größen damit ihr Mann sie ihr nicht vorhalten kann. Diese Geschichte spielt sich vor den Augen und Ohren der Tochter ab, die sie als Kindheitserinnerung wiedergibt, begleitet von ihrem zweiten – heutigen – Ich, dass die Auswirkungen neu bewertet und die Mutter immer wieder in ein neues Licht rückt. Es ist eine Reise durch viele Winkel der menschlichen Entwürdigung aber auch eine, die mit einem mutigen, offenen Herzen schließt. Auch wenn die Mutter sagt: „Wenn ich jemals eine Autobiographie schreiben sollte, müsste sie den Titel ‚Zu‘ tragen. ‚Zu arm, ‚zu krank, ‚zu dick‘ oder ‚zu schwach‘. Mein ganzes Leben lang ist immer etwas an mir zu wenige gewesen. Oder zu viel.“, so hat sie am Ende ihre Würde gefunden und die Frage bleibt zu klären, wer denn nun ‚zu‘ gewesen sei. Ein berührendes Buch, das spannend, überraschend und liebevoll ist.

Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter; Kiepenheuer & Witsch, 2022, ca. 24,- €

Meret ist Krankenschwester mit ganzem Herzen. Es ist ihre besondere Gabe den Patientinnen Mitgefühl zu geben. Das ist auch dem Oberarzt aufgefallen. Er fragt sie, ob sie bei seinen besonderen Operationen assistieren würde, bei denen es von großer Bedeutung ist, dass die Patientinnen bei Bewusstsein sind. Ziel des von ihm als einfach bezeichneten Eingriffs sind Gehirnregionen, in denen die Wut und Aggression verortet sei. Den – ausnahmslos – Frauen soll so geholfen werden, dass sie ein normales Leben wieder aufnehmen können. Eines Tages zieht eine neue Mitbewohnerin in das Zweibettzimmer im Schwesternwohnheim. Zunächst treffen sich die jungen Frauen durch unterschiedliche Schichten nie, doch dann beginnt eine romantische Affäre, die unter den besonderen Arbeitsaufgaben von Meret unter Spannung gerät. Nicht zuletzt weil eine Patientin den Weg zurück in das normale Leben nicht mehr findet.

In einer wunderbar bildhaften Sprache entfaltet Yael Inokai den Arbeitsalltag der jungen Schwestern in einem Schweizer Hospital, ihre Ambitionen und die Grenzen von Wissenschaft und unkonventionellen Beziehungen in diesem Rahmen. Eindrücklich und sehr lesenswert.

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff, Hanser Verlag, 978-3-446-27231-6, 2022, ca. 22,- €

Man sieht nur, was man weiß

Dunkelblum, ein Ort an der Grenze von Österreich zu Ungarn erscheint auf den ersten Blick wie eine normale kleine Stadt. Ein Wirtshaus, ein Gasthaus mit Zimmern, eine historische Säule, ein abgebranntes Schloss, etliche verwinkelte Gassen und angrenzend neue Bauten mit einem Reisebüro, einem Autohaus, einem Architekten.

Der zunächst beschauliche Gang wird zu einer Erkundung der verschiedenen Schichten der Ortsgeschichte, die sich als komplex und letztlich auch nicht mehr in Gänze rekonstruierbar erweist. Wo sind beispielsweise in Dunkelblum die in den Nachbarorten lange gefundenen Grabstellen der letzten Zwangsarbeiter*innen, die den Südostwall als letzte militärische Bastion errichten sollten? Diese, wie manche andere Fragen, können nicht mehr beantwortet werden, da die Personen, die es wussten, verstorben sind und mit ihnen ein Puzzlestück der Geschichte Dunkelblums. Bewohner*innen allen Alters und verschiedenster politischer Gesinnung teilen mal überraschend, mal erwartet ihre persönlichen Erinnerungen. Auch wenn die Bewohner*innen manchmal verschroben erscheinen, so kann man sie sich doch leicht vorstellen, wie zum Beispiel Frau Balaskò, die im Vorzimmer des Bürgermeisters sitzt. Sie führt nur Aufträge aus, gleichbleibend freundlich und genau nach Anweisung. Würde der Bürgermeister wechseln und sie bekäme gegenteilige Anordnungen, würde sie diese ebenso ausführen. „Ihre Strategie bestand in Abwehr, ohne Anstrengung Bälle zu retournieren, gar nicht in der Absicht sie in Punkte zu verwandeln, weich unaggressiv, die Kraft des Gegners ausnutzend“.

Es entsteht ein komplexes Bild aus Verschweigen und Vergessen in einer kleinen Gemeinschaft, das uns allen vertraut vorkommen wird bei aller Fremdheit. Sollten sich die Parallelen nicht erschließen, handelt es sich vermutlich um eine Leserin, die ‚die tiefen Teller nicht erfunden‘ hat.

Eva Menasse: Dunkelblum, Kiepenheuer& Witsch, 2021, ca 25,- €

Was am Ende zählt

Frisch verwitwet zieht Mrs Palfrey als Alterssitz in das Claremont Hotel in London. Was pompös klingt, entpuppt sich schnell als eine mittelmäßige Pension, die vor allem von älteren ‚Damen‘ und ‚Herren‘ bewohnt wird. Sie alle haben ihre täglichen Höhepunkte sorgfältig geplant, die vom Tagesmenü bis zum richtigen Sessel im Gemeinschaftsraum reichen. Mit besonderer Aufmerksamkeit – da sie den Platz in der Hierarchie dieser kleinen Gruppe bestimmen – werden stets Besuche bemerkt und beobachtet.

Noch mehr Beachtung findet es wenn ein Gast für einen Ausflug abgeholt wird. Sieht es für Mrs. Palfrey zunächst so aus als würde sie lediglich durch die Abwesenheit ihres Neffen glänzen, spielt ihr der Zufall dann in die Hände: sie macht die Bekanntschaft eines gutaussehenden Schriftstellers… Liebevoll, etwas boshaft und in jedem Fall kurzweilig liest sich dieser Roman von Elizabeth Taylor, der vor rund 50 Jahren entstand und nun von Bettina Abarbanell ins Deutsche übersetzt wurde

Elizabeth Taylor: Mrs Palfrey im Claremont, Dörlemann Verlag, 2021, ca 25 Euro.

Mut und Ausdauer

1953 liegt dem Kongress der Vereinigten Staaten eine Resolution vor, die vorsieht die Rechte der indianischen Stämme, die so lange eingeräumt worden waren ‚wie das Gras wächst und die Flüsse fließen‘, zu beenden. Sie sollten nicht länger in Schutzgebieten mit besonderer Unterstützung leben sondern ‚in die Freiheit‘ überführt werden – eine Freiheit, die ihnen nur den Verlust ihrer letzten verbliebenen Territorien und der Unterstützung in Bereichen der Bildung und sozialen Belangen eingetragen hätte.

Louise Erdrichs Großvater lebte im Reservat der Chippewa in North Dakota, arbeitete als Nachtwächter in der Diamantfabrik und war Vorsitzender des Stammesrates. Als ihm die Entwürfe für die Resolution vorgelegt werden, setzt er alle Hebel in Bewegung, um diese zu stoppen. So taucht die Geschichte in den Alltag der Turtle Mountain Band Chippewa. Die Familie von Patrice Paranteau mit ihrer Mutter Zhaanat, die noch viele Bräuche lebt, ihrem alkoholkranken und gewalttätigen Vater und der Schwester Vera, die den Verlockungen der ‚großen Stadt‘ zu nahe gekommen ist, gibt einen kaleidoskopischen Blick frei auf Wege und Umwege, Probleme und Lösungen in einem indigenen Reservat. Die Geschichte zieht in ihren Bann aus Realität und Spiritualität, Tradition und Entwicklung. Lebendig und glaubwürdig, abwechslungsreich und überraschend ist sie eine Lektüre wert.

Louise Erdrich hat für diese literarische Umsetzung der Geschichte ihres Großvaters 2021 den Pulitzer Preis erhalten.

Louise Erdrich: Der Nachtwächter, Aufbau Verlag, ‎ 978-3351038571 , ca. 24,- Euro

Für den erfolgreichen Lyriker Hilary Wainright ist das Weihnachtsfest mit seiner Mutter unerquickliche Tradition. Da klopft es an der Tür und ein Fremder bittet um Einlass – ein französischer Soldat. Er kommt mit einer Mission. Seine Verlobte und Hilarys verstorbene Frau Lisa waren Freundinnen und er weiß, dass Hilarys Sohn John in den Kriegswirren verschwunden ist.

Hilary, der John zuletzt als Zweijährigen gesehen hat und auf das Ende des Krieges und ein Wiedersehen wartete, ist von der Nachricht tief getroffen da so auch das letzte Band zu seiner Frau zerrissen scheint. Er dankt dem Fremden für sein Angebot, John zu suchen. Nach Kriegsende zögert er seine Reise nach Frankreich aber so lange wie möglich raus, da er nicht weiß, ob er seinen Sohn finden möchte und sich auf die Rolle als Vater wieder einlassen kann. Es folgt eine Spurensuche durch Paris, in eine Kleinstadt auf dem Land, wo es in einem Waisenhaus einen vielversprechenden Jungen Jean gibt. Die Oberin erwartet tägliche Besuche und Hilary wartet auf die Antwort seines Herzens. Eine wunderbar vorsichtige Geschichte der Suche eines Vaters nach seinem Sohn vor einem Alltag mit Knappheit, Korruption und politischen Kriegswunden, die in ihren Bann zieht und durch ihre Beschreibungen von Orten und Charakteren für sich einnimmt.

as

Marghanita Laski: Herz sprich LAUTER!, Arche Verlag Zürich 2019; ca. 12,- €

Tag für Tag wird es leichter… oder schwerer

Eigentlich ein Buch, das man nach einem Jahr Pandemie nicht lesen kann. Eigentlich aber auch ein Buch, das durch seine Dichtheit, seine lyrisch klare Sprache und seine präzisen Bilder in seinen Bann zieht und so muss man es dann halt doch lesen.

Monster ist die einzige Überlebende nach einer Periode der Kriege, die in einer tödlichen Krankheitswelle endete. Sie überlebte im Saatguttresor im arktischen Spitzbergen und machte sich irgendwann auf die Rückreise über das Meer in ihre Heimat England. Ihr Name Monster steht für ihre Kämpfernatur und so folgen wir ihr durch die menschenleere Landschaft. Ihr Überlebenswille führt sie schließlich zu einem verlassenen Bauernhof, in dem sie sich einrichtet, Nahrung anbaut und Fehlendes aus der nahen Stadt holt. Was aber tut ein Mensch ganz alleine, wie kann Monster diese Situation bewältigen? Mit dem Finden eines Mädchens in der verlassenen Stadt bekommt diese Frage eine neue Dimension und schließlich noch eine dritte. Es ist die Zeit wert sich auf diese Dystopie einzulassen da sie Tiefe und Resonanz hat.

Katie Hale: Mein Name ist Monster; S. Fischerverlag, Frankfurt, 2020, 3103974690, ca. 22,- €

Ein langer Weg

Tara Westover ist Tochter einer Mormonenfamilie aus Idaho. Sie wächst naturnah und verbunden mit der monumentalen Landschaft hinter ihrem Elternhaus auf. Jenseits der Natur ist ihr Alltag geprägt von der Arbeit auf dem Schrottplatz im Unternehmen ihres Vaters und der Begleitung ihrer Mutter, die Hausgeburten in der mormonischen Gemeinschaft durchführt. Sie und ihre Geschwister besuchen keine staatliche Schule, haben keine Geburtsurkunden und befolgen die Regeln des gläubigen und vehementen Vaters.

Ein Bruder entfernt sich von der engen Kontrolle der Familie und ihrem Glauben, holt einen Schulabschluss nach und studiert. Tara unternimmt erste zaghafte Schritte nach draußen und tritt mit einer Laienspielgruppe auf, was ihren Vater sowohl mit Stolz erfüllt aber auch erzürnt, wenn die Grenzen der Schicklichkeit ihm nicht gewahrt zu sein scheinen. Dieser Spannungsbogen von der Suche nach Eigenem und dem Wunsch in der Familie geliebt zu werden und dazu zu gehören ist bestimmend für den langen Weg, den Tara einschlägt. Bildung ist ihr Weg in die Welt, aber auch weg von ihrer Familie. Sie schafft nicht nur den Schulabschluss, sondern schließt letztlich ihr Studium nach vielen inneren Kämpfen und Verlusten mit einer erfolgreichen Promotion ab. Absolut lesenswert und mitreißend geschrieben, trotz der harten und gewalttätigen Szenen im Alltag ihrer Familie.

as

Tara Westover: Befreit, Kiepenheuer& Witsch, Köln 2019; ca. 12,- €

Scheideweg

Mit vierzehn Jahren ist Linda ein Zwitter in jeder Hinsicht. Sie lebt mit ihren Eltern und den drei Hunden in einer Hütte an einer Seenplatte in Minnesota, die einstmals zu einer lebhaften Kommune gehörte. Den Weg zur Schule legt sie alleine durch die vielgestaltige und ihr vertraute Natur zurück.

Zu Hause ist sie für die Versorgung der Hunde und das Ausnehmen der Glasaugenkarpfen in der Saison verantwortlich. In der Schule ist sie zurückhaltend bis ein neuer Lehrer sie zur Teilnahme an einem Geschichtswettbewerb anregt. Sie entscheidet sich für die Geschichte der Wölfe – keine Begründung und auch kein Gewinn im Wettbewerb. Diese innere und äußere Isolation scheint zu Ende zu gehen als eine Familie mit einem kleinen Jungen gegenüber am See ein Haus bezieht. Sie suchen eine Betreuung für Paul und Linda findet sich plötzlich wieder in der alltäglich wirkenden Wärme einer 'normalen' Familie. Paul und sie erkunden die Natur und verbringen die Zeit mit seinen Traumwelten. Aber, etwas stimmt nicht mit Paul. Auch sein gelehrter Vater kann es mit seinen Theorien der christlichen Wissenschaft nicht erklären. Linda muss eine Entscheidung fällen, die den Rest ihres Lebens beeinflussen wird. Sowohl inhaltlich fesselnd als auch dicht in seiner Beschreibung der Natur lässt das Buch die Leserin nur ungern wieder los.

as

Emily Fridlund: Eine Geschichte der Wölfe, Piper Verlag München 2019; Taschenbuch oder E-Book ca. 11,- €

Auge in Auge

Die Realität lässt in diesem Buch keinen Raum für Abschweifungen. Präzise und eindrücklich ersteht das Leben der Bewohner*innen von Sandberg, einer Plattenbausiedlung im Kohlebaugebiet unweit von Breslau für die Leserin. Drei Generationen Frauen mit ihren durch Krieg, Arbeit, hierarchischen Alltag und schäumende Träume geprägten Männern sind die Protagonistinnen.

Sie leben auf dem Land in Polen, sind umgezogen auf der Suche nach Neuem, Arbeit, der Liebe. Zunächst wohnen sie in den verlassenen Villen der vorherigen deutschen Familien und dann folgt der Umzug in die ersehnte Neubausiedlung Sandberg. Ist zunächst der ungewohnte Luxus einer eigenen Wohnung mit grundlegendem Komfort ein neues Erlebnis, zeigt sich über die Jahrzehnte aber auch die Kehrseite des engen Zusammenlebens, der Kenntnis aller Erlebnisse im Leben der Nachbarfamilien. Die Jugendlichen treffen sich auf dem Dach zu Drogen, Alkohol und Sex. Wer schwanger wird, heiratet, egal, ob es die erwünschte Traumpartie ist oder nicht. Doch auch in diesem Moloch tauchen immer wieder lichte Momente auf, in denen etwas gelingt, eine Freundschaft Bestand hat, die Begabung einer jungen Frau entdeckt und gefördert wird, sodass diese einen Weg hinaus findet. So grau wie facettenreich schillernd, traurig und doch voller Leben, taucht uns Joanna Bator in das Polen der letzten 50 Jahre, zwischen Südschlesien und heute, intensiv ein. Vielleicht keine leichte Lektüre aber eine bewegende.

as

Joanna Bator: Sandberg, Suhrkamp Verlag Berlin 2012; ca. 12,- €

Momente der Stille

Als einer, der ganz allein die Antarktis durchquerte, der am Süd- und Nordpol war und den Mount Everest bestieg, weiß der norwegische Abenteurer Erling Kagge, wo die Stille zu finden ist. Darüber hat er ein schmales, weises und schön gestaltetes Buch mit zarten und genauen Reflexionen über die Stille geschrieben.

Es geht nicht um die Stille, die um einen herum ist, sondern um die, die in einem ist. Es geht darum, das, was man tut, von innen zu betrachten, es zu erfahren und nicht zu viel zu denken sondern jeden Augenblick groß genug sein zu lassen. Man kann bei unterschiedlichen Beschäftigungen zur Ruhe kommen. Innere Stille kann entstehen, wenn man unter der Dusche steht und sich das Wasser über den Kopf rinnen lässt, wenn man vor einem knisternden Lagerfeuer sitzt oder durch einen Waldsee schwimmt, wenn man den Sternenhimmel betrachtet, ein Kunstwerk bestaunt oder ein Kind in den Armen hält.

Wer Inspirationen sucht, sich Inseln im Alltag zu schaffen, der greife zu diesem Büchlein und unternehme eine Erkundung der kostbaren Momente der Stille, in denen man sich selbst konzentriert und intensiv spürt und dabei zu wahrer Ruhe kommt.

Erling Kagge: Stille, Insel Verlag, Berlin, Buch, Ebook, MP3

@biblioagnes | Damaris Agnes Zeitler

Mit klarem Blick

Das Dorf Unterleuten, rund 100 Kilometer von der Metropole Berlin entfernt, im Brandenburger Landwirtschaftsgürtel gelegen, zeichnet sich auf den ersten Blick vor allem durch seine eigenwilligen Bewohner und Bewohnerinnen aus, die eine Lex Unterleuten geschaffen haben. Doch sie bleiben nicht ungestört.

Vogelschützer, Immobilienspekulantinnen, Windparkplaner, Landromantiker, Computerspielentwicklerinnen, Pferdeflüsterer, sie alle streben nach Unterleuten. Die Dynamik, die die Verwirklichung ihrer individuellen Lebensziele auslöst, führt zu vielfältigen Verwerfungen und einem dramatischem Ende. Was sich dörflich anmutet erweist sich als Prisma der Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte in Deutschland. Mit klarem Blick und wechselnden Perspektiven zieht das Buch in seinen Bann und fasst manch unklares Gefühl, das man hegte, in präzise Worte. Spannend und – leider – nur zu gut beobachtet, ist es ein absolut lesenswertes Werk.

as

Juli Zeh: Unterleuten; Random House München, 2017; 978-3-442-715732, ca. 12,00 €

Zugegeben, das Setting klingt alltäglich, sogar wenig attraktiv. Die weiten, dunklen Wälder Kanadas in der Nähe eines Sees, kurze Sommer und harte Winter. Dazu kommen drei sehr alte Männer, zwei jüngere Männer, die von zwielichtigem Charakter scheinen und vom Cannabisanbau leben, eine Fotografin und eine alte Dame. Ihre Verbindung ist der Ort, an dem die alten Männer, jeder in seiner eigenen Holzhütte, leben, sich vor der neugierigen Außenwelt verbergen und einen neuen Lebensabschnitt begonnen haben.

Das Eindringen der Fotografin, die auf der Suche nach Zeitzeugen der ‚Großen Brände‘ ist, und kurz darauf der alten Dame bricht alte Muster der kleinen Siedlung auf und stellt neue Fragen. Nicht nur werden wir Zeuginnen der Brüche in den Lebenswegen, wir werden auch einbezogen in die tägliche Begegnung mit Liebe und Tod. Ein intensives und nachdenkliches Leseerlebnis, das gleichzeitig lebhaft und anregend ist.

as

Jocelyn Saucier: Ein Leben mehr; Insel Verlag Berlin 2017; 978-3-458-36189-3; ca. 10,- €

Eiskalt ist es in der Geschichte von Hanna, die eine Expedition an den Südpol macht. Die Forscherin und ihr kleines Team haben wenige Wochen Zeit dem Eis aus größter Tiefe seine dort gefrorene Vergangenheit zu entreißen. Jahrelang haben die Vorbereitungen in Anspruch genommen. Nicht nur ist es eisig und das Team ist den Elementen ausgeliefert, auch die Isolation stellt sie vor manche Aufgabe.

Da erreicht Hanna eine Nachricht ihres Bruders, die sie auf eine Reise schickt in ihre eigene Vergangenheit. Parallel entfaltet sich Hannas Geschichte und Bohrkern um Bohrkern werden Eisstücke aus der Vergangenheit geholt. Eine fein gewobene Geschichte, die sich mal liest wie feiner Schneestaub in der Sonne und mal wie ein eisiger Schneesturm.

as

Anne von Canal: Whiteout; mare Verlag Hamburg, 2017978-3-86648-247-0

Zwischen Deich und Großstadt

Mit der Region Flandern im Fokus der diesjährigen Buchmesse, schweift der Blick der neugierigen Leserin auch etwas weiter gen Niederlande. Doris Hermanns hat Autorinnen aus einem ganzen Jahrhundert ausgewählt, die mit ihren kürzeren und längeren Erzählungen in ein facettenreiches Land entführen.

Die beiden Schwestern im Geiste, Kiep und Kat, deren Geheimnis des Rezeptes für Ente schwarzsauer nur in einem einzigen Fall enthüllt werden darf, oder die Geschwister, die heimlich die Liebesromane ihrer Stiefschwester verschlingen, entwerfen jeweils unterschiedliche Momentaufnahmen. Ihnen allen eigen ist eine mitreißende erzählerische Dichte. Sie geben der Vielfalt an Frauenleben in den Niederlanden ein lebendig erzähltes Gesicht.

Biographien der Autorinnen vervollständigen den Lesegenuss dieses Bandes.

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Wär mein Klavier doch ein Pferd. Erzählungen aus den Niederlanden, 2016
editionfünf, Hamburg
978-3-942374-75-0
ca. 9,90 €

Bezwingbar?

Ein kleines Bergdorf im Schatten des Monte Rosa ist der Ort, an dem Pietro, der Stadtjunge und Bruno, der Bergjunge sich treffen. So verschieden wie ihre Mütter, die eine ist gesellig, die andere spricht meist gar nicht, sind auch die Jungen. Dennoch werden sie über Erkundungen an reißenden Bächen, verfallenen Gemäuern und Almwiesen Freunde. Der Schritt ins Erwachsenenleben entfernt sie voneinander da Bruno in den Bergen bleibt und Pietro in die Welt reist.

Der Tod von Pietros Vater bringt ihn zurück in die Berge. Nicht nur sucht er nach seinem weiteren Lebensweg, er hat auch eine verfallene Almhütte von seinem Vater geerbt, die er gemeinsam mit Bruno bewohnbar macht. Mal schweigend, mal diskutierend, mal sich streitend setzen sich die beiden Männer mit ihren unterschiedlichen Beschränkungen des Verweilens und des Fliehens im Schatten der mächtigen und unverrückbaren Berge auseinander. Magie und Kraft der Bergwelt gehen eine intensive Beziehung zur Freundschaft von Bruno und Pietro ein und erzeugen eine faszinierende Atmosphäre.

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Paolo Cognetti: Acht Berge; DVA 2017; 978-32-421-04778-6; ca. 20,- €

Rastlos ohne Eile

Mit Tempo aber gleichzeitig Detailliebe zieht Marina Keegan die Leser_innen in ihre Kurzgeschichten und Essays. Die 22-jährige Autorin belebt sowohl den Alltag eines Kammerjägers als auch die an Brüchen und Versuchungen reiche Welt von Studierenden und jungen Erwachsenen.

Ob es das Spannungsfeld einer jungen Frau ist, deren eher oberflächlicher Liebhaber plötzlich stirbt und die sich plötzlich in der Rolle sieht als Lebenspartnerin auftreten zu müssen, oder, ob Marina Keegan der Frage nachgeht, was denn das Gegenteil von Einsamkeit sein könne, die Geschichten fesseln und berühren mit ihrer hinterfragenden Lebendigkeit. Wunderbar ist auch ihr Essay, in dem sie sich fragt, was so viele ihrer erfolgreichen Mitstudierenden dazu bringt, ihre berufliche Laufbahn bei Beratungsfirmen zu beginnen fern ihrer Fähigkeiten und persönlichen Ziele. Tauchen Sie lesend ein in die Welt Marina Keegans.

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Marina Keegan: Das Gegenteil von Einsamkeit; Fischer Frankfurt, 2016; 978-3596032426, ca. 9,99 €

Was geschah zuvor

Geboren in einer kleinen Stadt am Rande der französischen Alpen als Älteste von fünf Kindern, zeigt sich in der Schule, dass ihre Leistungen ein Studium in Lyon ermöglichen. Zurückhaltend nimmt sie es auf, kehrt jeden Abend wieder mit dem Zug nach Hause zurück.

Mit ihrem ersten Zimmer in der Stadt findet sie eine Freundin, die sie abends mit in eine Kneipe nimmt. Sie lernt eine Gruppe sehr unterschiedlicher Studenten und Studentinnen kennen, verliebt sich in Henri, der mysteriös scheint und merkt bald, dass etwas in seiner Geschichte ihn zurück hält. Ihre zweite Liebe, der deutsche Austauschstudent Johann, bringt ihr mehr Glück. Heirat, Umzug nach Deutschland, Kinder und Beruf nehmen ihren Lauf, doch auch hier gibt es scheinbar Unaussprechliches.

Mit klarer, nuancierter Sprache, verdichtet Sylvie Schenk ihren Lebensweg, die Zeit, die es brauchte, die Nachkriegsgeneration in Deutschland zum Reden zu bringen. Es entsteht ein dichtes Bildergewebe, das dauerhaft beeindruckt.

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Sylvie Schenk: Schnell, dein Leben
Hanser Verlag, München, 2016
978-3-446-25331-5
ca. 16,- €

Mir kommt es chinesische vor – und wie kommt es der Chinesin vor?

Chinesen und Chinesinnen sind allgegenwärtig in Arbeitswelt, Gastronomie und Alltag und doch sind sie wie unsichtbar und wir haben kaum eine Vorstellung, wie sie uns und unseren Alltag sehen. Einen interessanten Einblick gewährt Christoph Rehage, der mit einer chinesischen Reisegruppe von China aus eine Europakurztour absolviert. Ihr Reisebus fährt sie von Venedig, Pisa, Rom über München, Neuschwanstein, die Schweiz nach Paris und Frankfurt.

Überall erwarten sie Führungen, Einkaufsangebote, chinesische Gruppenmahlzeiten und Unterkünfte in Vororten. Manchmal gibt es etwas Freizeit für einen Bummel, wo dann beispielsweise erstaunt die Taubenschwärme betrachtet werden. In China sind sie nicht vorstellbar, da Tauben auf dem Speiseplan stehen.

Ein anderes Mal sind die Reisenden angetan von der europäischen Höflichkeit als ihnen ihre Frage nach dem Weg zur Nôtre Dame bereitwillig beantwortet wird. Die Reise wird reportagenhaft beschrieben. Eine wunderbare Ergänzung sind die Besuche Rehages bei seinen Mitreisenden einige Zeit später an ihren Wohnorten in China. Er beobachtet ihr Lebensumfeld, spricht mit ihnen über ihren Alltag und ihre Gründe für die Europareise. So ist das Buch kein Reiseführer zu Chinesinnen und Chinesen, aber es bietet amüsante, informative und vielfältige Gucklöcher.

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Christophe Rehage: Neuschwanstein. Mit zwölf Chinesen durch Europa, 2016
Malik Verlag, München
978-3-89029-435-3
ca. 15,- €

Nicht nur zwischen den Stühlen

Toto ist in jeder Hinsicht ein Zwischenwesen. Zur Zeit der DDR im Osten Deutschlands geboren, mit einem an Stelle von zwei Elternteilen. Das Zuhause ist ein Kinderheim, wobei das Heim eher ein Trainingslager ist. Toto ist auffällig groß und dazu noch plump, ein Ziel für vielerlei Spott und wenig Zuwendung. Doch wer ist Toto? Spott und Gewalt, Ungerechtigkeit und Gemeinheit prallen an Toto ab. Toto ist zaghaft, wohlwollend und sicher, dass aus jedem neuen Anfang etwas Gutes wird.

So kommt Toto nach Westdeutschland. Doch auch hier ändert sich nichts für Toto. Bis er entdeckt, dass er eine ungewöhnliche Stimme hat und dass auch diese sozusagen ‚dazwischen’ ist. Er entdeckt die Liebe und auch hier ist er zwischen den Geschlechtern und vielleicht doch eher eine sie. Der unaufhaltsame Niedergang Totos, sein/ihr unerschütterlicher Glaube an das Sinnvolle und Gute steht eine scharfsinnige Analyse der Lebensbedingungen im Osten und Westen Deutschlands ebenso gegenüber wie ein dystopischer Blick in unsere konsumverliebte Zukunft. Eine niederschmetternde und gleichzeitig anregende Lektüre.

as

Sibylle Berg; Vielen Dank für das Leben, 2014
Deutscher Taschebuch Verlag, München
978-3-423-14341-7
ca. 9,90 €

Intime Distanz

Als Jasper Gwyn eine Liste mit 52 Dingen, die er in diesem Leben nicht mehr tun möchte, im Guardian veröffentlicht, ist ihm die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen sicher. Er, der berühmte Schriftsteller, hat als letzten seiner 52 Punkte aufgeführt: nie mehr Bücher schreiben. Wohlweislich ist er vor Erscheinen unbekannt verreist. Sein literarischer Agent nimmt seine Ankündigung zunächst nicht ernst, da er sie für eine der üblichen Schrullen eines Autors betrachtet. Aber Jasper Gwyn ist es ernst.

Er schreibt auch nach der Rückkehr aus seinem Refugium keine Zeile mehr, merkt jedoch bald, dass er eine neue Aufgabe sucht. Ein Galeriebesuch und das Gespräch mit einer alten Dame bringen ihn auf die Idee, Porträts zu schreiben. Nein, nicht einfach eine Beschreibung des Äußeren einer Person und vielleicht einiger angenommener Eigenheiten, eine Erfassung der Persönlichkeit schwebt ihm vor, um den Porträtierten sich selber wieder zurück zu geben. Er sucht sich den passenden Raum und gestaltet ihn im Detail mit Licht, Möbeln, Musik, um seiner neuen Aufgabe einen würdigen Rahmen zu geben. Wird er erfolgreich sein mit seinem Experiment, fragt nicht nur er sich.

Die im Folgenden entstehenden Porträts und ihr Entstehungsprozess sind eine berührende und nachdenkliche Reise zu ihm und den Porträtierten. Faszinierend ohne voyeuristisch zu sein, belebend und geistig anregend bei der Lektüre.

as

Alessandro Baricco: Mr. Gwyn, 2016
Hoffmann und Campe, Hamburg
978-3-455-40561-3
ca. 19,90 €

Alltag in Alamos

Los Alamos, 1943, gelegen in wilder Natur und abgeschottet gegenüber der restlichen Welt. Hier hatte der amerikanische Staat alle namhaften Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zusammen gerufen, um nach einer neuen Superwaffe, der Atombombe zu forschen. Doch sie gingen nicht allein in die Forschungssiedlung.

Frauen, Männer und Kinder kamen mit in das in aller Eile errichtete, vom Militär geführte Camp, in dem 1945 mehr als 5000 Wissenschaftler_innen und ihre Familien zusammen lebten. Ein Teil der Campbewohner_innen ging der Forschung nach, der andere wurde aus einem vertrauten Alltag in eine neue, künstliche Umgebung verpflanzt. Der Alltag dieser, vor allem Frauen, wird facettenreich und anrührend in Tarashea Nesbits Buch eingefangen. Die matschigen Wege, die Versorgungslücken, die listig überbrückt werden mussten, die Geheimnisse um alles und jedes. Sie formt ein dichtes Bild des täglichen Lebens der Familien und Frauen zwischen Zaun und Geheimhaltung und gibt so dem Alltag der Frauen von Los Alamos einen vielschichtigen und wertschätzenden Rahmen.

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Tarashea Nesbit: Was wir nicht wussten; 2014
Dumont, Köln
978-3-8321-9735-3
ca. 19,90 €

Fruchtbare UFOs

Neuseeland heute, in einer Kleinstadt, die mit dem Bau eines neuen Super-Badeparks und der Wiederbelebung der Bibliothek Touristenströme anlocken möchte. Größter Arbeitgeber ist eine Schlachtfabrik, deren Werkssirene der Puls der kleinen Stadt ist. Auch die bedeutenden Bürger der Stadt sind schnell aufgezählt: Bürgermeister, Pfarrer, Polizist.

Eigentlich alles übersichtlich bis innerhalb kürzester Zeit drei Mädchen schwanger werden und sich sicher sind, noch nie Sex gehabt zu haben. Weder Druck von Pfarrer und Bürgermeister, noch Schläge und Hausarrest ihrer Eltern bringen eine andere Wahrheit ans Licht. Sie erzählen von einer Lichtgestalt, die sie in sein UFO geführt habe und dann verschwimmen die Details. Spuren einer UFO-Landung finden sich samt einer dabei zerdrückten Kuh auf einem Feld am Rand des Ortes. Die Frage der ‚jungfräulichen Schwangerschaften’ beschäftigt alle Bewohner und Bewohnerinnen. Spannend und witzig im Detail und natürlich gibt es letztendlich eine überraschende Wendung.

as

Anthony MacCarten: Liebe am Ende der Welt; 2012
Diogenes, Zürich
978-3-257-24208-9
ca. 10,90 €

Drachen in Berlin

Schon der Name der Autorin bezeugt ihre zweifachen kulturellen Wurzeln, die für ihren Lebensweg in Berlin maßgeblich waren. Der chinesische Vater, der von seiner Familie zum Studium der Elektrotechnik nach Darmstadt, das ihm eher kleinstädtisch vorkommt, geschickt wird, wird jedoch nie als Elektrotechniker arbeiten. Die politischen Ereignisse führen dazu, dass er in Berlin ein renommiertes Chinarestaurant und später die legendäre Hongkong-Bar eröffnet.

Sein Leben zeichnet sich aus durch lange Arbeitstage, Geselligkeit und Risikofreude. Die deutsche Mutter ist eine unabhängige Frau, der die durch die Rassegesetze der Nationalsozialisten verhinderten Heirat nur ein Achselzucken abgewinnen kann. Nicht nur kulturell sind die Wurzeln der Eltern unterschiedlich, auch im Alltag verschlägt es sie im Nachkriegsberlin in Ost- und Westsektor. Die Wege von Ost nach West und zurück werden zum bezeichnenden Impuls im Leben der Autorin, das sie gefühlvoll und mit lebendigen Details den Leserinnen zugänglich macht.

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Dagmar Yu-Dembski:
Chinaprinzessin. Meine deutsch-chinesische Familie
edition ebersbach, Berlin2013
978-3-86915-064-2, ca. 18,00 €

Neues aus der Ur- und Frühgeschichte

Was wie ein Bonmot klingt, ist aus archäologischer Sicht jedoch gut möglich. Auf diese Reise in unsere Vergangenheit nimmt uns Barbara Obermüller, die an der feministischen Akademie Alma Mater studierte.

Aufgrund von Artefakten unternimmt sie eine neue Bewertung der Rolle von Männern und Frauen in der Ur- und Frühgeschichte. Sie geht ihrem Alltag, ihrem Glauben und ihrem Zusammenleben anhand vieler archäologischer Funde nach. Zahlreiche Bilder bezeugen ihre Darlegungen. Mancher Mythos muss allerdings weichen, von der mangelhaften Ernährungslage und einer kriegerischen Existenz bis zur Bedeutung von Handwerkerinnen und Priesterinnen für die frühen Gesellschaften wird die eigene bisherige Sichtweise zum Perspektivwechsel animiert.

Abgerundet wird Barbara Obermüllers Darstellung durch eine umfangreiche Dokumentation der ur- und frühgeschichtlichen Funde und Fundorte in Hessen, die zu einer Reise auf unseren frühen Spuren ermuntern und neugierig machen, die Exponate aus dem angebotenen Blickwinkel zu betrachten. Belebend sind auch die fiktiven Frauenschicksale von Glynis, Thusnelda, Julia und Alrun, die veranschaulichen, wie ihr Frauenalltag sich angefühlt haben mag.

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Barbara Obermüller
Christel Göttert Verlag Rüsselsheim, 2014
978-3-939623-46-5
ca. 29,95 €

Wieso Kartoffelschalen?

Mitten im Nachkriegsalltag der erfolgreichen Londoner Kolumnistin Juliet trifft ein Brief von einem Unbekannten ein. Dawsey Adams ist Bauer auf der Insel Guernsey und hat dort ein Buch erworben, das ihn sehr beschäftigt. Ein Stempel weist auf Juliet als vorherige Besitzerin hin und so wendet er sich mit seinen Leseerfahrungen und weiteren Fragen an sie.

Er berichtet vom Leben und Lesen während der Besatzungszeit und der Gründung des Clubs der Guernseyer Freunde von Literatur und Kartoffelschalenauflauf. Ein lebhafter, skurriler und liebenswerter Briefwechsel entflammt zwischen den verschiedenen Mitgliedern des Clubs und Juliet. Schließlich ist sie so neugierig auf die Mitglieder, dass sie nach Guernsey fährt um vor Ort für ein Buch über den Club zu recherchieren. Lebendig, detailreich und mit Liebe zu den Charakteren und dem historischen Rahmen nimmt die Geschichte ihren Lauf, deren Ende Sie am Besten selber erkunden in einer Schmökerecke.

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Mary Ann Shaffer/Annie Barrows: Deine Juliet
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009
978-3-499-24593-0
ca. 8,99 €

Grenzenlos bedingungslos?

Über die Liebe ist noch nicht das letzte Wort geschrieben worden, da sie mit immer neuen Überraschungen und Geheimnissen aufwartet. Gerade noch waren wir uns sicher, dass uns „das“ so schnell nicht wieder passieren kann, da sitzen wir erneut staunend vor dem Aufruhr unserer Gefühle, versuchen sie mit wohlgewählten Strategien in Zaum zu halten oder wählen den Weg des Ignorierens.

Wenn dies nun alles kein bisschen weiter führt, so sind wir auf dem Weg in das nächste Abenteuer mit der Liebe in unserem Leben. Allen jenen, die auch mal in die Nahkästchen von anderen hineinspicken möchten, wird die Sammlung an Texten „Wie die Liebe funktioniert“ vielfältige Befriedigung ihrer Neugier bieten. Von Connie Palmen über Haruki Murakani bis hin zu Alex Capus und Benoîte Groult finden alle Spielarten der Liebe ihr eigenes Spiegelbild. Sie nehmen für sich ein, bannen die Leserin für den Lauf ihrer Erzählzeit und machen Lust auf mehr: mehr Liebe und mehr Geschichten der Autor_innen.

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Susanne Nadolny (Hgin): Wie die Liebe funktioniert. Variationen über ein bekanntes Thema

edition ebersbach, Berlin 2012

978-3-86915-060-4

ca. 19,99 €

Fäden des Alltags

Rund um ‚Verstrickungen’ geht es in den fünf Herbstneuerscheinungen der editionfünf. Die Herausgeberinnen Beatriz Bracher und Augusta Faro haben in ‚Wenn der Hahn kräht’ Erzählungen von zwölf zeitgenössischen brasilianischen Autorinnen zusammengestellt, die den sich verwirrenden und entwirrenden Lebensfäden des Alltags gewidmet sind.

So kann der wöchentliche Besuch bei der Klassenkameradin einen alptraumhaften Beigeschmack erhalten, die Pediküre mit einer infizierten Nagelschere fatale Folgen haben. Aber auch die Liebschaft der Schneiderin mit einem wundervollen Mann oder ein Krankenhausaufenthalt wegen eines schnöden Leistenbruchs entführen in intime, manchmal skurrile oder fremde Welten. Eines ist den Geschichten allen gemein, sie ziehen in ihren Bann und öffnen neue Lebensfenster zum rein- oder rausblicken.

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Wenn der Hahn kräht. Zwölf hellwache Geschichten aus Brasilien

editionfünf, Hamburg 2013

978-3-942374-33-0

ca. 18,90 €

Von Ferne dringen die Warnungen vor dem aufkommenden Hurrikan Katrina in das Heim im Mississippi-Delta. Genauer betrachtet ist es eher eine Holzhütte, umgeben von alten Autowracks und Matratzen, die in einer Lichtung im Wald steht. Nach dem Tod der Mutter leben der Vater und seine vier Kinder dort, alle bestrebt ihren Platz in der Welt zu finden.

Der Älteste Skeetah wendet seine ganze Sorge seiner Pitbullhündin zu, deren Welpen er verzweifelt versucht durchzubringen, um sie verkaufen zu können und einen Weg aus der Armseligkeit seines Elternhauses zu schaffen. Das Sportass Randall trainiert unentwegt Basketball, um auf ein Sportcollege aufgenommen zu werden. Die 15jährige Esch driftet zwischen den Wunschwelten ihrer Brüder hin und her, hilft beim Stehlen von Medikamenten für die Welpen oder bei den spärlichen Vorbereitungen, die der Vater aufgrund der Hurrikanwarnungen trifft. Als sie herausfindet, dass sie schwanger ist, nimmt der Sog des aufkommenden Hurrikans auch sie mit in seinen Bann. Unaufhaltsam nähert sich der Sturm und alle Familienmitglieder kämpfen auf ihre Weise mit ihren persönlichen Herausforderungen. Die alltägliche Armut und Kargheit, die überbordende und gewalttätige Natur und letztendlich der unverbrüchliche Zusammenhalt aller führen direkt in das Auge des Hurrikans und wieder hinaus.

Mit ihrem zweiten Buch errang Jesmyn Ward nicht nur den National Book Award der USA sondern erhielt auch die Auszeichnung als bester Roman des Jahres 2011.

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Jesmyn Ward: Vor dem Sturm

Verlag Antje Kunstmann Verlag, München 2013

978-3-88897-881-4

ca. 19,95 €

Bermuda-Dreieck der Liebe

Schauplätze sind in den 20er Jahren: Paris mit seinen touristischen Attraktionen aus der Sicht eines wohlhabenden Amerikaners und Berlin aus der Sicht eines emporstrebenden Juristen und seiner Gattin, deren finanzielle Lage noch recht eng ist. Wohlwollend und liebevoll beschützend ist der erste Blick auf das Geschehen von Landgerichtsrat Droste auf sein Leben und das seiner Gattin Evelyn.

Unsicher unscharf ist der folgende Blick aus den Augen der leicht erschöpfbaren Evelyn während eines Tanznachmittags in einem noblen Tennisclub. Gefolgt wird er vom forschen, selbstgewissen Blick des amerikanischen Gastes Frank, der ein Gespür dafür hat, wie er die Herzen von Frauen für einen Flirt gewinnen kann. Aus diesen drei Perspektiven entfaltet sich die anrührende und dramatische Geschichte, die sich gänzlich Liebe und Leidenschaft widmet. Zu schnell verschwindet dabei die Wirklichkeit und das Bermuda-Dreieck der Liebe tut sich auf.

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Vicky Baum: Rendezvous in Paris

edition ebersbach, Berlin 2012

978-3-86915-063-5

ca. 19,99 €

Magie des Endes

Spezialistin für das Ende von Beziehungen ist Eva – meint sie zumindest. Nach Jahren, in denen sie Männern an allen erdenklichen Orten von Bibliotheken über Kirchtreppen, bis hin zu spätnächtlichen Milchshakes bei McDonald´s den Laufpass gegeben hat, in denen jede neue Beziehung für sie vor allem ein neues aufregendes Ende bedeutete, wird ihr klar, dass sie diesen Moment in der Beziehung mit Luke verpasst hat – jenen Augenblick des Endes.

Doch, was war passiert? Sie arbeitete immer noch als Lektorin für Liebesromane, verhalf ihnen zu korrekter Grammatik und polierte ihre Gossensprache auf. Nebenbei beobachtete sie das herunter gekommene Etablissement gegenüber ihres Arbeitsplatzes, machte sich Gedanken über mögliche Verbrechen in seinen Räumen und versuchte die Sexarbeiterinnen mit unverkauften Exemplaren von Liebesromanen in neue Welten zu entführen. Vielleicht hängt ihre Unfähigkeit mit Luke Schluss zu machen ja auch mit dem Auftauchen von Grace zusammen, die eines Tages in ihrer Wohnung für eine Nacht Zuflucht sucht und der sie seither erstaunlich oft zufällig begegnet.

Spannend und oft am Rande des Bizarren zieht die Geschichte von Eva in ihren Bann. Sie führt die Vielschichtigkeit Londons und seiner Bewohner_innen von geschäftig über trendy bis mysteriös lebendig vor Augen und macht Lust auf mehr Romane von Anna Stothard.

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Anna Stothard: Die Kunst Schluss zu machen

Übersetzung: Hans M. Herzog

Diogenes Verlag, Zürich 2013

978-3-257-30019-2

ca. 14,90 €

Wider die Natur

Nicht die Liebe, nicht der Tod, die Trauer als Prozess, der beide verbindet, beiden gemeinsam ist, steht im Mittelpunkt des ‚Logbuch eines unbarmherzigen Jahres’. Connie Palmen folgt ihren Gedanken und Gefühlen des ersten Jahres nach dem Tod ihres Mannes Hans van Mierlo. Sie lotet immer wieder aufs Neue die Qualität ihrer Trauer, ihre physischen Auswirkungen, ihren lähmende Einfluss auf jede aktive Lebensgestaltung aus.

Sie bewahrt Momente ihrer intensiven Liebe durch ihr Logbuch vor dem Verblassen. Auf vielen Pfaden sucht sie Trost und Linderung, muss jedoch erkennen, dass es diese weder im Lacrimosa von Mozart noch in C. S. Lewis ‚A Grief observed’ gibt, dass Trauer immer wieder ihr individuelles Leiden erfordert. Mitreißend, anregend, traurig und zutiefst ergreifend ist ihre Chronologie der Trauer, die sie als notwendig erfährt, um erneut frei zu werden für die Liebe und nicht wider die Natur im einsamen, antriebslosen Leben hängen zu bleiben.

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Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres

Diogenes Verlag, Zürich 2013

978-3-257-06859-7

ca. 21,90 €

Glück des Geistes

Über das Leben und Wirken von Caroline Schlegel-Schelling, eine der bedeutendsten Frühromantikerinnen, gibt es bereits eine Vielzahl an Biografien. Dennoch bietet die Publizistin Barbara Sichtermann mit ihrem schmalen Band eine neue und kluge Auswahl an Blickwinkeln, zeigt die Gespaltenheit von Caroline Schlegel-Schelling zwischen ihrem Wunsch eine Frau ihrer Zeit zu sein ebenso wie ihr unbedingtes Streben nach einem intellektuell erfüllten Leben.

Aus den Perspektiven des Lebenswegs, der Intellektuellen, der Verfolgten, der Gastgeberin und der Liebhaberin nähert sich ihr Barbara Sichtermann. Es entsteht ein Porträt, das bildet und zum Nachdenken über Ziel und Möglichkeiten eines Frauenlebens in seiner ihn umgebenden Zeit anregt.

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Barbara Sichtermann: Ein freies Frauenzimmer. Caroline Schlegel-Schelling
edition ebersbach, Berlin2013
978-3-86915-066-6, ca. 15,80 €

Einsamkeit

Nicht nur eine Auszeichnung erhielt Sofi Oksanen für ihr drittes Buch: Fegefeuer. Ihr Buch zieht mit seiner klaren Kühle die Leserin in den Bann der Geschichten von Aliide und Zara. Die Besetzung Estlands 1941 durch die deutschen Truppen, 1944 durch die russischen sowie die Wiedererlangung der Selbstständigkeit ab 1992 bilden den historisch unruhigen oft gewaltgeprägten Hintergrund.

Aliide lebt alleine auf einem alten, herunter gekommenen Hof. Nein nicht ganz alleine, ihre Geschichte und ihr Argwohn gegenüber der Außenwelt wohnen mit ihr in allen Ritzen und Winkeln. Als sie eines Tages ein menschliches Bündel in ihrem Kräutergarten findet, kostet es sie Überwindung ihr Misstrauen zu überwinden und die junge Frau in ihr Haus zu bitten. Nicht zufällig hatte diese Aliides Hof angesteuert auf ihrer Flucht vor Gewalt und Erniedrigung. Packend entfaltet sich die Geschichte der beiden Frauen, die mehr als eine Gemeinsamkeit aufdeckt. Die Verquickung der jeweiligen politischen Umstände mit den Wünschen und Zielen der Frauen führt in menschliche Untiefen und macht das Buch unbedingt lesenswert.

as

Sofi Oksanen: Fegefeuer, 2012
btb-Verlag, München
978-3-442-74212-7
ca. 9,90 €

Nicht gerade pink

Pink ist in dem Hotel in L.A., in dem die 17-jährige zur Totenwache ihrer Mutter Lily eintrifft, eigentlich nichts. Ebenso wenig wie in ihrem seitherigen Leben in London. Zwar ist sie eine begeisterte Fußballerin, aber weder die Ohnmachtsspiele ihrer Altersgenossinnen interessieren sie, noch ist sie gewillt sich unauffällig anzupassen.

So setzt ihr Hinauswurf aus der angesehenen Schule nur den letzten Punkt auf eine Reihe von Verfehlungen, die vor allem ihre Stiefmutter ausführlich aufzuzählen weiß. Ein Anruf informiert sie über den Tod ihrer leiblichen Mutter Lily, die England kurz nach ihrer Geburt verlassen hatte. Ohne klaren Plan wird ihre Reise eine Erkundung des Lebens ihrer verstorbenen Mutter und ein Schritt auf ihre eigenen Ziele zu. Schrill, empfindsam, manchmal schwül und hilflos spiegelt sich in ihrer Erzählung das ganze Spektrum der Gefühle einer Jugendlichen. Die Suche nach dem Leben ihrer Mutter und ihrem eigenen ist eine mitreißende, farbenfrohe Geschichte, die bereits für den Orange Prize for Fiction nominiert wurde.

Anna Stothard: Pink Hotel
Übersetzung: Astrid Arz und Hans M. Herzog
Diogenes Verlag, Zürich 2012
978-3-257-30007-9

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Mehr als Manuela

Christa Winsloe hat mit dem Roman ‚Das Mädchen Manuela’, der unter dem Titel ‚Mädchen in Uniform’ u.a. in einer Verfilmung mit Romy Schneider und Lilli Palmer Furore machte, gleich zweierlei ein Denkmal erschaffen. Zum einen schildert sie in ihrem Roman das Leben eines Mädchens aus einer Offiziersfamilie in Dünheim alias Darmstadt – ein Alltag, den viele Mädchen Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihr in der Residenz- und Garnisonsstadt geteilt haben.

Zum anderen stehen die Schwärmerei und Liebe einer Schülerin in einem streng geführten preussischen Mädchenpensionat zu ihrer Lehrerin im Zentrum des dramatischen Geschehens.Über die Künstlerin Christa Winsloe ist nun die erste Biographie erschienen, die sowohl ihren Werdegang als bildende Künstlerin, die sich mit den Problemen von kunstschaffenden Frauen ihrer Zeit – kein Zugang zu den Akademien und ein Studium der Bildhauerei ohne nackte Modelle – auseinander zu setzen hatte als auch ihre Wende zur Arbeit als Schriftstellerin aufzeigen. Zweiseitig oder zwie gespalten ist in Christa Winsloes Biographie vieles. So ist sie deutsche Staatsbürgerin mit ungarischem Pass durch die Heirat mit dem Baron Lajos von Hatvany. Sie hat flammende Affären mit Männern und lebt gleichzeitig in einer Liebesbeziehung mit der amerikanischen Journalistin Dorothy Thompson. Sie erlebt zwei Weltkriege ohne eine politische Position zu beziehen, hilft aber allen Flüchtenden, die ihren Weg kreuzen. Auch ihre künstlerische Laufbahn st von Zerrissenheit geprägt. Wagt sie mit der Darstellung von gewöhnlichen Haustieren wie Meerschweinen oder Hausschweinen einen Bruch mit den anerkannten Tiersujets, so gelingt ihr dennoch nicht der große Durchbruch. Den erlebt sie mit der Veröffentlichung von ‚Das Mädchen Manuela’ und wird mit einem Schlag berühmt. Allerdings gelingt ihr in der zerrissenen Zeit, in der sie lebt, kein zweiter Erfolg als Schriftstellerin.

Im Besitz des Instituts Mathildenhöhe befindet sich – leider nicht ausgestellt – eine Büste von Christa Winsloe, geschaffen von Heinrich Jobst im Jahr 1908. Ihr Bruder Ralph und seine Frau Martha, die 2006 mit 107 Jahren als älteste Darmstädter Bürgerin verstarb, lebten beide in Darmstadt und sind auf dem Alten Friedhof bestattet.

Doris Hermanns hat für ihre Biographie eine große Anzahl an Quellen ausgewertet, Interviews mit noch lebenden Zeitzeug_innen geführt und umfangreiches Bildmaterial zusammengetragen. So ist ein vielschichtiges, lebendiges Bild von Christa Winsloe entstanden, das nach der Lektüre neugierig macht auf ihre Texte und ihre bildhauerischen Werke. Glücklicherweise ist ‚Das Mädchen Manuela’ gerade wieder aufgelegt worden im Verlag Krug & Schadenberg.

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Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela.
Die Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe
AVIVA Verlag, Berlin 2012
978-3-932338-53-3
ca. 19,90 €

Dinosaurierknochen

Ähnlich wie bei der Rekonstruktion eines Dinosauriers aus einigen Knochen, verhält es sich mit unseren Erinnerungen. Details sind erhalten, aus denen wir das Ganze wieder bilden. Wir erschaffen uns eine Geschichte, die durch ihre Erzählung das Erlebte wieder belebt und wirklich scheinen lässt.

Nadja Spiegelman erforscht ihre Geschichte, die ihrer Mutter und Großmutter in Gesprächen, Interviews und im Alltag. Es treten ebenso Überschneidungen wie Widersprüchliches zu Tage, die nebeneinander positioniert einen anziehenden Charme entwickeln. In Schichten enthüllen sich Ereignisse und geben den Blick frei auf die Stärken und Verletzungen dreier Frauengenerationen, auf sich wiederholende Mutter-Tochter-Muster und auf ihre Liebe füreinander. Neben der Faszination für die Frauen, beginnt man immer wieder eigene Erinnerungen zu hinterfragen und nach ihrem Anteil des 'Dinosaurierknochens' zu untersuchen.

Nadja Spiegelman: Was nie geschehen ist, Aufbau Verlag Berlin 2018; 978-3-351-03705-5 , ca. 22,00 €

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Fremd im eigenen Leben

Inspiriert durch die Tagebücher ihrer Großmutter hat die Comiczeichnerin Barbara Yelin die Geschichte von Irmina geschaffen. Irmina ist zielstrebig und überzeugt davon, dass es sich lohnt für ihr Ziel ‚zu tun, was sie will’ Einsatz und Mut zu zeigen.

So geht sie, nachdem die Eltern nur ihren Brüdern ein Studium ermöglichten, Anfang 1934 von Stuttgart nach London um dort auf einer Wirtschaftsschule Fremdsprachensekretärin zu lernen. Täglich wird sie mit Bemerkungen konfrontiert, die sie mit den politischen Entwicklungen in Deutschland gleichsetzen. Es wird eine schwierige Gratwanderung für sie als Unerwünschte doch das berufliche Ziel weiter zu verfolgen. Mit Howard lernt sie einen ‚Darkie’ kennen, der bei seinem Studium in Oxford ähnliche Probleme hat. Ihre keimende Romanze wird unterbrochen als Irmina London verlassen muss. Zurück in Deutschland ist ihr Ziel ihr eigenes Leben zu führen. Sie wird als Sekretärin im Reichskriegsministerium angestellt und erfährt den Zwiespalt von geringem Lohn bei hohen Anforderungen an ihre Leistung. Bedrängt von ihrem Vorgesetzten kündigt sie und möchte zurück nach England zu Howard. Der Plan scheitert und so führt ihre Suche nach einem angenehmen Leben zur Hochzeit mit einem Architekten und SS-Mann. Irminas Leben während der Herrschaft der Nationalsozialisten ist gekennzeichnet durch Sorge um das eigene Wohlergehen, ihren Unwillen für Mann, Kind und Haushalt zu Hause auszuharren und ihre Rolle als passive Zuschauerin bei den Judenpogromen. Durch den Tod ihres Mannes im Krieg ist sie wieder auf ihren Beruf angewiesen, den sie schweigend und mit hoher Aufopferung ausführt. Sie besucht Howard auf Barbados und wird dort mit seinen Erinnerungen an eine mutige Irmina konfrontiert, die sich für ihre Ziele einsetzt. Letztlich ist sie sich fremd geworden im eigenen Leben.

Lebendig, ergreifend und dicht am Alltag zeigen die Zeichnungen Barbara Yelins das Leben einer zunächst unkonventionellen und mutigen jungen Frau, die sich im Laufe ihres Lebens immer mehr in den Umständen einrichtet. Wie Einzelne die Wirren der Geschichte im Alltag erleben sowie Aspekte des historischen Kontextes stehen im Blick des Nachworts von Dr. A. Korb.

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Barbara Yelin: Irmina

REPRODUKT, Berlin 2014

978-3-95640-006-3

ca. 39,- €

Gesucht – gefunden!

Wie häufig ist es gerade ein kurzes Zitat, dass eine Rede oder einen Text abrunden könnte, wenn, ja wenn man ein entsprechendes von einer Frau zur Hand hätte. Zitatesammlungen sind in großer Auswahl verfügbar, aber nicht solche mit wohl ausgewählten Zitaten berühmter Frauen.

Da bietet sich der Band aus dem Helmer Verlag als abwechslungsreiche, mal erheiternde, mal nachdenklich stimmende Sammlung an.Nach Themen von Macht über Konkurrenz, Geld und Stärke geordnet, liegt der Fokus auf Aussprüchen rund um die Themen Macht, Erfolg und Geld. Zu Wort kommen Frauen aus allen Lebensbereichen: Sport, Wirtschaft, Kultur, Politik. Werfen Sie einen Blick in das Buch, aber denken Sie immer mit Heidemarie Wieczorek-Zeul: „Der Kopf ist nicht zum Nicken, sondern zum Denken da“.

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Isabel Rohner, Andreas Franken (Hg): „Erfolg buchstabiert sich T-U-N“
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach 2011
978-3-89741-327-6

Zu allem entschlossen

Stellen Sie sich doch mal vor: Sie sitzen alleine am Abendbrottisch, wie nun schon einige Jahre und es klingelt. Sie öffnen die Tür und sind überrascht Ihre Nachbarin vor sich zu sehen, die um ein kurzes Gespräch bittet. Neugierig aber auch unsicher, was sie zu Ihnen bringen könnte, bitten Sie sie an den Tisch und bieten etwas zu Trinken an. Sie lehnt ab, da sie nur kurz bleiben möchte.

In wenigen Sätzen legt sie Ihnen dar, dass sie ja nun beide schon einige Zeit verwitwet seien und für sie das Schlimmste die Einsamkeit der schlaflosen Nächte sei. Sie wolle sie fragen, ob sie nicht nachts bei ihr in ihrem Bett übernachten wollten, sodass man gemeinsam wäre und sich miteinander unterhalten könne. Wie würden Sie reagieren? Wie Addie und Louis mit ihrem Entschluss umgehen und wie ihre Umgebung darauf reagiert, dass zwei Verwitwete über siebzig ihren eigenen Weg wählen, lässt sich einfühlsam, humorvoll und nachdenklich stimmend in 'Unsere Seelen bei Nacht' verfolgen.

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Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht, 2017
Diogenes Verlag, Zürich
978-257069860
ca. 20,- €

Im Zwischenreich

Das wahre Reich einer Erzählerin ist das Zwischenreich, angesiedelt zwischen der allvertrauten Realität und der immer wieder überraschenden Phantasie- und Traumwelt. Nach ihrem wunderbaren Roman ‚Swamplandia’ bietet Karen Russel ein wahres Feuerwerk an inspirierenden Erzählungen.

Ist in der ersten Erzählung ein altes Vampirpaar – so man das bei Vampiren sagen kann – mit seinen erlesenen Vorlieben für besonders wohl gereifte Zitronen das Thema, so entführt die nächste Geschichte in eine bizarre Dystopie, die in einer Seidenfabrik im Fernen Osten spielt. Das Schicksal einer amerikanischen Siedlerfamilie, diebische, schicksalshafte Möwen oder ein Kriegsveteran mit einem fast lebendigen Tatoo, der gegen seine Kriegstraumata Tiefenmassagen auf Staatskosten erhält sind nur einige der Erzählstränge, die Karen Russell aufnimmt und auf fesselnde Art zu Geschichten zu spinnen weiß. Es erstaunt daher wenig zu erfahren, dass die Zeitschrift ‚New Yorker’ sie kürzlich zu einer der besten 20 Autor_innen unter 40 Jahren kürte. Lassen Sie sich ein auf ihre Welt, sie ist voller interessanter Überraschungen.

as

Karen Russell: Vampire im Zitronenhain

Kein & Aber Zürich – Berlin, 2014

978-3-0369-5674-9

ca. 19,95 €

Reise mit leichtem Gepäck

Ganz entgegen der Kindheitserinnerung von Liza, in denen ihre Oma mit den Worten „Lizka, Walizka“, die kleine Liza zum Kofferpacken für den gemeinsamen Urlaub ermunterte, reist die Studentin Liza mit leichtem Gepäck. Ein Koffer scheint ihre Reise durch den Osten Europas von Ljubjana über Belgrad nach Odessa nicht zu begleiten.

Dafür hat sie ihre Sorgen und Probleme im Gepäck und ihre Freundinnen als Reisegefährtinnen. So wie sie die Grenzen Europas überschreitet, kreuzt Liza auch beständig die Grenzen zwischen Liebe und Verlust, Flucht und Sehnsucht nach Zugehörigkeit. In rasantem Lebenstempo sucht sie ihren Platz im Leben, ein Versuch der so manches Mal vor der Toilettenschüssel endet. Ein Parforceritt auf der Suche nach dem Glück.

as

Daniela Chmelik: Walizka
Asphalt & anders Verlag, Hamburg 2012
978-3-941639-08-9
ca. 16,90 €

Wie wird man eigentlich… Spionin?

Sicher keine Frage, die uns alle Tage beschäftigt aber dafür eine geheimnisumwitterte. Natürlich wird es einen Weg über Studium und Vitamin B oder eine Laufbahn im öffentlichen Dienst hierfür geben, aber nicht nur.

Julia Armstrong ist 1940 18 Jahre alt, Waise und lebt in London. Sie folgt einem Angebot zu einem Vorstellungsgespräch und findet sich dann als Phonotypisten für den britischen Geheimdienst MI5 wieder mit der Aufgabe Gesprächsprotokolle von Treffen britischer Nazi-Sympathisanten zu tippen. Das ist einerseits grenzenlos langweilig andererseits enthält es auch einen Reiz des Verborgenen.

Nach Kriegsende beginnt sie – wie einige ihrer MI5-Kolleg_innen – für die BBC zu arbeiten und hofft nun in einen normalen Alltag zurück zu gelangen. Plötzlich häufen sich Treffen mit Personen aus ihrer Zeit im MI5 und es stellt sich die Frage, ob sie wirklich nur Gesprächsprotokolle geschrieben hat.

Die absichtslose Verstrickung von Julia Armstrong in die Arbeit als Spionin ist absolut lesenswert und wer weiß, vielleicht ist die eine oder andere von uns auch schon auf dem Sprung zu einer Karriere als Spionin.

Kate Atkinson: Deckname Flamingo, Droemer Verlag München 2019; 978-3426281307, ca. 19,99 €

as

Westwärts…

Die Westbesiedlung Nordamerikas durch europäische Einwanderer/innen hat bisher vor allem die Heldentaten der Siedler in den Mittelpunkt gestellt. Die Rolle der Frauen in ihrem Umfeld beschränkte sich in der Darstellung meist auf die Typen „treue Helferin“ oder „wilde Schönheit“.

Dabei wäre die Einschätzung von der Historikerin Susan Armitage zu bedenken, dass „selbst die größten Helden ein Leben führten, dass zu 99 Prozent aus gewöhnlichem Alltag bestand“, womit eine ‚wahre’ Geschichte des Wilden Westens sich eben diesem Alltag zuwenden müsste. Dieser Aufgabe widmet sich das Buch auf der Grundlage von unveröffentlichten Tagebüchern, Memoiren, Briefen und aufgezeichneten Interviews mit Indianerinnen aus der Frühzeit der Oral History.

So entsteht für die Leser/innen ein Bild der Lebenswirklichkeit von Frauen unterschiedlicher Kulturen, Epochen und Schichten und verwebt ihre Erfahrungen zu einer lebendigen und reich bebilderten Patchworkdecke. Der Alltag dieser Pionierinnen war oft gezeichnet durch den Kampf gegen Hunger und Kälte, Krankheiten und Unkenntnis, Vorurteile und Gewalt.

Wie sie diesen Herausforderungen je nach Temperament und Zeit begegneten lässt sich anschaulich in dem Buch verfolgen. Neben vielen ausdrucksstarken Fotografien, leitet der Text durch Themen wie „Auf in den Westen“, „Ein neues Zuhause“, „Hinter verschlossenen Türen“, „Ihrer Hände Arbeit“ und „Gestalterinnen der Gesellschaft“, die immer mit Zitaten der Frauen belegt und bereichert sind. Ein gut lesbares, anschauliches Bild der täglichen Arbeiten und Herausforderungen entfaltet sich, das das Ende manches, lieb gewonnenen, Vorurteils nach sich ziehen wird.

as

Linda Peavy; Ursula Smith: Westwärts mit gerafften Röcken. Pionierinnen in Nordamerika 1773 bis 1900

Übersetzung: Dörte Fuchs und Jutta Orth

Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2012

978-3-8369-2675-1

Eine Zeitreise in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Neuenglandstaaten bietet der neu übersetzte Roman der amerikanischen Autorin Elizabeth Stoddard. Cassandra Morgeson, Tochter eines aufstrebenden Entrepreneurs, sucht in der calvinistisch-puritanischen Umgebungen, in der sie heranwächst, nach ihrer Möglichkeit als Frau zu leben.

Umgeben von Standesdünkel, altem Adel und neuem Reichtum aber auch von störrischen Charakteren, die von dem Land, in dem sie leben, geformt zu sein scheinen, ist sie eine eigenwillige junge Frau. Sie wird auf Reisen zu Verwandten und Bekannten geschickt, wo sie sich einerseits deren Alltag anpasst, andererseits aber ihre klare Wahrnehmung behält, die sich oft in brüsken Reaktionen zeigt.

Wie schwebend scheinen die Gespräche in dem Roman oft zu sein, da ihnen von der Autorin kein Gefühl hinzugefügt wird, sodass die Leserin auch gleichzeitig Schöpferin ihrer Geschichte von Cassandra wird. Andere Charaktere wie die elfenhafte Schwester Veronica, die Haushälterin Temperance und einige eher verschlossene als romantische junge Männer bilden den alltäglichen Rahmen zum Erwachsenwerden von Cassandra.

as

Elizabeth Stoddard: Die Morgesons
Übersetzung: Susanne Opfermann und Helmbrecht Breinig
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach 2011
978-3-89741-328-3

Landleben mit Geist

Stilvolles Landleben bietet den Hintergrund für den Alltag der verarmten aber kinderreichen Familie Torrington. Ms. Emerald Torrington wird ihren zwanzigsten Geburtstag dennoch gebührend feiern und die letzte Hausangestellte arbeitet mit Hochtouren am Menü während das Hausmädchen, das sie gelegentlich unterstützt, sich der Arbeit entzieht. Der neureiche Farmer John Buchanan fährt mit seinem Rolls-Royce vor und muss zunächst mit Mrs. Torrington Vorlieb nehmen.

Als Emerald schließlich den Salon betritt, zeigt sich das erste Mal ein weiteres Gesicht dieser Familie. Mrs. Torrington verlässt mit den Worten: „Ich muss nach den Hühnern sehen“. den Raum – nur haben die Torringtons keine Hühner. Doppelbödigkeit gibt dem zunächst beschaulich scheinenden Leben seinen Geist.

Doch dann wirft das Eintreffen einer Kutsche mit Überlebenden eines Eisenbahnunglücks auf einer Nebenstrecke alle Pläne über den Haufen. Bis auf einen Reisenden waren sie alle offensichtlich und auch riechbar Reisende der dritten Klasse. Der nun einsetzende wirbelnde Tanz zwischen den beiden Gruppen und unter den geladenen Geburtstagsgästen bringt manch dunkles Geheimnis ans Licht du lässt manch lichtscheues Gesindel erstrahlen um es wieder im Dunkel verschwinden zu lassen. Eine amüsante Parforcetour durch Sitten und ihren Verfall sowie die Welt der Untoten schließen sich an, die das Buch zu einer fesselnden Lektüre machen.

as

Sadie Jones: Der ungeladene Gast
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012
978-3-421-304555-3
ca. 19,99 €

Wer war die Muse?

Lawrie erhält als einziges Erbe seiner glamourösen Mutter ein gerolltes Ölbild, auf dem eine junge Frau und ein Löwe zu sehen sind. Er weiß darüber nur, dass seine Mutter es immer bei sich hatte. Der Künstler Isaac Robles ist ihm unbekannt. Odelle, die er bei der Hochzeit ihrer besten Freundin kennen lernt, hat seit ihrer Ankunft aus der Karibik das England gesucht, dass sie aus ihrem Studium der englischen Literatur kannte.

Ihr Alltag war jedoch weniger prosaisch: eine kleine Wohnung mit ihrer Freundin und ein Job in einem Schuhladen. Dort lernt sie Marjorie Quick kennen, die sie zur Veröffentlichung ihrer Kurzgeschichten und einer Arbeit in der Skelton Gallerie animiert. Sie ist hautnah eingebunden in die Recherche zu dem neu aufgetauchten Bild von Isaac Robles, einem in den 30er Jahren gefeierten spanischen Künstler. In den Wirren des spanischen Bürgerkriegs verloren sich alle Spuren von ihm. Parallel verflechten sich nun die Zeit der Entstehung des Gemäldes und die seiner Wiederentdeckung. Lebendig, tragisch und mysteriös entfaltet sich die Geschichten der Kunsthändlerfamilie Schloss und von Isaac Robles in Spanien. Doch auch die Ereignisse im London der 60er spitzen sich immer weiter zu. Die berührenden und mitreißenden Geschichten der Liebe einerseits und ein Kunstkrimi andererseits ziehen in ihren atmosphärisch dichten Bann.

as

Jessie Burton: Das Geheimnis der Muse; 2018
Insel Verlag, Berlin
978-3458363293
ca. 14,95 €